Daniela Raimondi: An den Ufern von Stellata

  Die Gene machen den Unterschied

Die Fremde aus dem Wohnwagen war schuld daran, dass wir zu einer Familie von Bastarden wurden. (1. Satz)

Raimondi

Als Angehörige des fahrenden Volkes, durch allerlei widrige Umstände aufgehalten, im lombardischen Dorf Stellata sesshaft werden, bleiben Verbindungen zur angestammten Bevölkerung in der Folge nicht aus. Auch der schwermütige Einzelgänger und Fantast Giacomo Casadio verliebt sich in den 1790er-Jahren überraschend Hals über Kopf in die schillernde, temperamentvolle „zingara“ Viollca Toska mit seherischen und heilerischen Fähigkeiten. Die Gene dieser beiden Urahnen bestimmen die nachfolgenden Generationen der Familie Casadio: Zukünftig gleichen sie entweder Giacomo, sind hellhäutige Träumer mit himmelblauen Augen, oder sie sind von dunklem Teint und verfügen über unerklärliche Talente, lesen die Zukunft aus Tarotkarten und verstehen sich aufs Heilen wie Viollca oder sprechen mit den Toten wie ihr 1800 geborener Sohn Dollaro. Nur einmal, sechs Generationen später, mischen sich beide Anlagen auf unglückliche Weise: Die 1947 geborene Donata erleidet das tragischste Schicksal aller porträtierten Familienmitglieder, als sie politisch radikalisiert zur Terroristin wird.

Sieben Generationen, gut 200 Jahre
Sieben Generationen einer Familie aus einem kleinen Dorf in der Poebene, wo Veneto, Lombardei und Emilia Romagna zusammentreffen, zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und den 1970er-Jahren, ergänzt durch einen Epilog aus dem Jahr 2013, stehen im Mittelpunkt des Debütromans der Lyrikerin Daniela Raimondi, der nach seinem Erscheinen 2020 in Italien zum Bestseller avancierte. Die Autorin, 1956 in der Lombardei geboren, lebte zeitweise in Südamerika, wohin es auch eine ihrer Protagonistinnen verschlägt. Mit den Lebensläufen ihrer Figuren, deren privaten Höhen und Tiefen, Liebesglück und Herzenstragödien, Krankheit und Elend, Heimatverbundenheit und Familiensinn, verschränkt Daniela Raimondi unaufdringlich und ohne belehrenden Unterton die italienische und sogar die Weltgeschichte: Freiheitskampf und Kriege, Naturkatastrophen, Auswanderung, Armut und Not, Revolutionen, Faschismus und Widerstand, Kirche, Fremdarbeitertum und Terrorismus. Gerne hätten die gelegentlichen Ausführungen über Mode, Küche, Musik, Fernsehserien, Sitten und die Stellung der Frauen noch ausführlicher sein dürfen.

© B. Busch


800 Minuten gute Unterhaltung
Dass es während der 800 Minuten der ungekürzten Lesung auf zwei mp3-CDs nie langweilig wird, dafür sorgen einerseits die überaus originellen Charaktere, die alle auf ihre eigene spannende Art aus dem Rahmen fallen, andererseits die facettenreiche Interpretation der Schauspielerin Simone Kabst. Sie erweckt jede einzelne Figur zum Leben und liest den Text nicht nur, sondern lebt ihn auch. Auch wer wie ich keinerlei Draht zur Esoterik hat – der hier als roter Faden dienende magische Realismus sollte niemanden abschrecken, denn die Autorin streut ihn, genau wie den Aberglauben, durchaus mit einem Augenzwinkern ein, das ich auch in Simone Kabsts Stimme zu hören glaubte.

Farbenprächtig und spannend
Erstaunt hat mich, dass ich den Stammbaum im Inneren der CD-Hülle selten gebraucht habe, so gut sind die überaus zahlreichen Familienmitglieder unterscheidbar. Auch wenn man sich die einzelnen Schicksale nicht merken kann, bleibt doch ein Bilderbogen einer ungewöhnlichen Familie in den Wirren zweier Jahrhunderte im Gedächtnis. Wer gerne farbenprächtige, spannende Familiensagas liest oder hört, dem kann ich den zwar oft tragischen, jedoch nie kitschigen und bis zum Ende gut unterhaltenden Schmöker wärmstens empfehlen.

Daniela Raimondi: An den Ufern von Stellata. Aus dem Italienischen von Judith Schaab. Ungekürzte Lesung von Simone Kabst. Hörbuch Hamburg 2022
www.hoerbuch-hamburg.de

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